Jaguar XJ Serie 1: Linie Liebreiz

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Cpt. Jag
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Jaguar XJ Serie 1: Linie Liebreiz

Beitrag von Cpt. Jag » Mi 28 Jun, 2017 09:02

Der Jaguar XJ Serie 1 zeigt, dass Limousinen so viel mehr sein können als Nutzwert, Prestige, Luxus oder Bequemlichkeit. Zum Beispiel erhaben sein über das Skeptiker-Geschwafel, dass auch dieses Auto nur von A nach B fahre. Eine Liebeserklärung.

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Für Schönheit braucht es kein sehendes Auge, weil Schönheit nicht allgemein gültig ist. Für Schönheit braucht der Schöpfer Empfinden. Schönheit lässt sich nicht auf Formenverständnis reduzieren, sie ist mehr als das bloße Zusammenspiel wilder Vokabeln wie Dynamik oder Wucht, Schwung und Ästhetik. Ließe sich Schönheit in Worte fassen, sie wäre nicht so erhaben über andere Kriterien, die sich im Gegensatz zu ihr in Werte und Worte wandeln lassen. Schönheit entschuldigt alles.

Und Sir William Lyons, der brachte uns Schönheit, die überdauert. Er entwarf den Jaguar XJ Serie 1. Vorweg: Lyons erschuf auch den Jaguar XK 120 und den E-Type – unbestrittene Meilensteine, zeitlose Legenden, ja automobile Gottheiten. Aber durch die Prahl-Stahl Attitüde heutiger Autobauer – egal ob aus Indien, Deutschland, Japan oder USA – blüht der erste Jaguar XJ derzeit neu auf.

Er verströmt gerade jetzt den Duft von Liebreiz und stellt sich damit in Opposition zum Macho-Gehabe und Testosteron-Gedünste der Schießschartenfenster-Fraktion. Dieser aktuelle Vergleich ist es, der ihm – und sei es nur für diesen Augenblick – den Ruhm zu Teil werden lassen soll der ihm gebührt und ihn kurz über E-Type und XK 120 erhebt. Als ganz subjektive Momentaufnahme versteht sich.

Lyons hatte keinen einfachen Job. 1933 hatte er die S.S. Cars Ltd. Gegründet – die Marke, aus der 1945 Jaguar werden sollte. Die Firma gab es, damit Lyons den S.S., seinen selbst entwickelten Wagen, vertreiben konnte. Sollte Ihnen beim Lesen dieser Zeilen unbehaglich werden, wird vielleicht deutlich wie dringend notwendig 1945 eine Namensänderung war.

Schon beim S.S. versuchte Lyons seine Idee von Schönheit umzusetzen. Er versuchte flache Chassis zu bekommen, die seinen Geschmack trafen, konnte sich aber keine Kleinserien leisten. Er verhandelte deswegen mit den Großserienherstellern, die jedoch keinen Markt sahen. Außer Lyons würde niemand diese Duckmäuschen-Bleche haben wollen, glaubten sie. Damals wie heute war Protz gefragt, er sah eben nur anders aus. Hochgestellter, kantiger, eckiger.


Das Schönste oder nichts

Für Lyons ein Unding. Aus dem S.S. machte er trotz der widrigen Umstände – mal abgesehen davon, dass ein Weltkrieg kurz bevorstand, fehlte es schlicht an finanziellen Mitteln – ein wunderschönes Auto. Der S.S. 1 Airline, also die luxuriöse Fließheck-Variante seiner Limousine, würde heute dem Gesamtbild jeder Autosammlung gut tun. Allein der Motor konnte die Leistung nicht liefern, die das Design versprach.

Wie muss sich das für Lyons angefühlt haben? Vielleicht wie eine zu kurze Decke, bei der die Füße kalt werden, wenn sie die Schultern wärmt. Vielleicht wie eine juckende Nase, wenn beide Arme im Gips sind. Er wusste was zu tun war, allein ihm fehlten die Mittel.

Bis 1948. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt. Schönheit zu Papier zu bringen war für ihn kein Problem. Doch diesmal stimmte auch der Motor. Der 3,4-Liter Sechszylinder für den XK 120 hatte halbkugelförmige Brennräume und zwei obenliegende Nockenwellen. Das Fahrzeug war zu diesem Zeitpunkt eines der schnellsten Serienfahrzeuge der Welt. Ein Aggregat auf das er Image, Ruf und Portfolio seiner Marke aufbauen konnte.

Für Jaguar folgten goldene Jahre. Mit Siegen in Le Mans, bei der Rallye Monte Carlo und den Tourenwagen. Und natürlich mit der Präsentation des E-Type. Jaguar hatte einen guten Ruf und musste sich, im Vergleich zu späteren Jahren, keine Sorgen machen, pleite zu gehen. Dass dies ein halbes Jahrhundert später erwähnenswert ist, auch, weil es sich schnell änderte, zeigt, wie „unerbittlich Geschichte“, vulgo „inkompetent das Management“, sein kann.


E-Type mit vier Türen

1968 präsentierte Jaguar dann den XJ Serie 1. Es sollte das letzte Fahrzeug sein, das unter der Leitung von Lyons entstand – auch wenn er noch bis 1972 Aufsichtsratsvorsitzender sein sollte. Der XJ war die Verkörperung dessen, für was die Marke stand. Das autogewordene Vision-Statement. Hochwertige Limousinen zu einem guten Preis. Doch der XJ war mehr, er hob diesen Anspruch auf ein völlig neues Level.

Vom Start weg gab es den XJ in zwei Varianten. Entweder mit 2,8 (149 PS) oder 4,2 Liter Hubraum (185 PS). Derart motorisiert löste der Wagen eine Reihe von Modellen ab. Der 340, der S-Type und der 420 wurden fast umgehend eingestellt. Der 240 sowie die Daimler-Modelle 250 V8 und 420 G liefen noch kurz weiter, bevor auch sie dem XJ Platz machen mussten. Zu Recht.

Als die ersten Entwürfe 1963 gezeichnet wurden, war der XJ so etwas wie ein E-Type mit vier Türen. Doch die sportliche Optik hätte die Limousinen-Kunden, also das Rückgrat von Jaguar, verschreckt, weswegen die Front des 420 G zum Vorbild genommen wurde.

Das Ergebnis war ein Auto von perfekten Dimensionen. Zumindest von außen. Innen geht es, durch die flache Linie und den breiten Mitteltunnel mitunter etwas eng zu. Aber Schönheit entschuldigt alles, das kann nicht oft genug geschrieben werden. Der XJ Serie 1 war eine Skulptur, die gleichzeitig so elegant und scheu wirkte, dass man über sie automatisch nur ehrfurchtsvoll flüstern wollte, um sie nicht zu verschrecken.


Wir sollten öfter Hut tragen

Der Innenraum glich einer Komposition aus feinen Materialien wo es drauf ankam und Sparsamkeiten von denen man hoffte, sie mögen den Kunden nicht auffallen. So wurden die Seitenteile der Sitze in den frühen Modellen beispielsweise nur mit Kunstleder überzogen.

Der Kunde bekam einen Butler, der für seinen Herrn mitdachte, wenn es nötig war. Jeder XJ-Kunde konnte beidseitig an die Zapfsäule fahren. Es gab zwei Tanks, zwischen denen per Kippschalter gewechselt werden konnte. Kippschalter ... meine Liebe. Ein Goodie, wie ein Sinnbild für das Drama heutiger Autos. Es gibt sie nicht mehr. Zumindest keine, deren Optik und Klang diesen Begriff verdient hätten. Und es gibt keine zwei Tanks mehr. Es gibt ein kleines Dreieck über der Tankanzeige, das lustlos für den abgelenkten Fahrer zu der Seite zeigt, auf der sich der Tankstutzen befindet. Es ist ein Trauerspiel.

Doch der XJ diente nicht nur, er machte auch deutlich, welche Vorgänge der Fahrer in einem Auto ohne Würdeabrieb selbst erledigen konnte. Fenster kurbeln (Fensterheber gab es dann gegen Aufpreis) und die Aufgaben der Zentralverriegelung zu übernehmen zum Beispiel. Letzteres ist für den Fahrer eleganter Limousinen unabdingbar. Eine Zentralverriegelung mag uns Bequemlichkeit schenken, raubt uns aber den Anstand. Denn der Gentleman offenbart sich darin, dass er die Tür extra für die Dame aufschließt. Und nur für sie. Dass er die Tür nur für sie öffnet und wieder schließt. Er drückt ihr die Tür nicht beiläufig per Knopf auf. Er lädt sie ein. Wir sollten wieder öfter Hut tragen.


Das richtige Auto zur richtigen Zeit

Der XJ war eine Punktlandung. Er galt als eines der leisesten Fahrzeuge seiner Art. In England wurde der Wagen umgehend Car-of-the-year. Zu einer Zeit, als dieser Titel noch mehr war als ein Werbeinstrument. Ein Nachteil der Sache war, dass das Dämmmaterial über die Zeit Wasser aufsog und so der Rost die eine oder andere Karosserie dahinraffte. Noch einmal: Schönheit entschuldigt alles.

Doch es ging noch ein Stück besser. 1972 lancierte Jaguar eine XJ-Variante von Daimler mit 5,3-Liter-Zwölfzylinder. Geschmeidigkeit und Verbrauch wurden neu definiert. Die Probleme bei der Zuverlässigkeit werden bei diesem Fahrzeug zu Gunsten halbgarer Pointen gerne übertrieben. Gleiches gilt für die Wartungskosten. Das größte Problem ist, dass der Motorraum völlig überfüllt ist. Alleine für einen Zündkerzenwechsel muss beinahe ein ganzer Arbeitstag eingerechnet werden. Wirklich unkompliziert oder günstig sind andere Zwölfzylinder auch nicht. Es gibt keine Zwölfzylinder für Habenichtse, das ist systemimmanent.


Realitycheck

Der Jaguar XJ – ja die Marke selbst – war auf dem Gipfel. Und wer ganz oben ist, für den gibt es nur noch einen Weg: abwärts. Denn Anfang der 1970er Jahre stand British Leyland – und Jaguar war genau genommen nur die Luxusmarke dieses Geflechts – aufgrund chronisch leerer Kassen unter staatlicher Kontrolle. Die Verarbeitungsqualität war jämmerlich und bis heute ist jedem Auto-Briten mit Anstand diese Phase einfach nur peinlich.

Bergauf ging es erst wieder Ende der 1970er Jahre, als die Reprivatisierung von Jaguar abgeschlossen war. Pininfarina hatte den XJ überarbeitet und schuf mit der Serie 3 die kommerziell erfolgreichste Generation bis dahin (warten wir mal ab, was der aktuelle Macho letztlich in die Kassen spült).

Der Jaguar XJ Serie 1 bleibt die Erscheinung der Marke, an der sich aktuelle Limousinen jetzt messen lassen müssen. Nichts ist deprimierender als eine Landschaft ohne Jaguar XJ Serie 1, in der eben noch ein Jaguar XJ Serie 1 stand. Heulen Sie leise, flüstern Sie.






Quelle: heise.de
Autor: Bernd Kirchhahn
26.06.2017
XJ 8 Sovereign 4L / 2001
Where ignorance is bliss, 'tis folly to be wise.

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